The Waiting Game
Jetzt heißt es erstmal das schlechte Wetter absitzen. Zwei volle Tage verbringen wir bei Regen und Schneefall im Zelt. Eine weitere Lektion, die es bei Expeditionen zu lernen gilt: „The Waiting Game“. Die Spielregeln sind einfach, aber es ist ein Spiel das an den Nerven kratzt. Selbst der beste Freund kann hier zur Nervensäge mutieren. Wir alle verlieren unseren Optimismus und haben Angst, dass jetzt nach 12 Tagen im Basecamp die Expedition zum Bolshaya Ganza ein jähes Ende findet.
Vom Fliegen und Klettern
Doch mit der Sonne am dritten Tag kehrt auch der Optimismus zurück. Zwar zeigt sich der Bolshaya Ganza nun im Wintergewand, daran wollen wir jetzt aber noch nicht denken. Es gibt in der Umgebung des Basecamps genügend Möglichkeiten um sich abzulenken. Ein Boulderblock befindet sich direkt hinter dem Zeltlager und eine flache Wiese dient als Spielplatz für unsere Paragleitschirme.
Eine rund 300hm hohe Wand befindet sich einige Minuten vom Lager entfernt. Am zweiten sonnigen Tag ist diese Wand bereits trocken und wir wagen einen Versuch. Völlig clean, sprich ohne Material zurückzulassen, gelingt uns eine coole Erstbegehung. Eine offensichtliche Riesenverschneidung zieht mit einigen Dächern durch die gesamte Wand. Über leichtes Gelände (4) erreichen wir die atemberaubende Verschneidung. Die Kletterei löst sich immer perfekt auf und lässt sich auch relativ gut absichern. Im 6. Grad klettern wir in sieben Seillängen auf den höchsten Punkt. Die positive Stimmung gewinnt wieder Überhand und die „Bad vibes“ der letzten Tage sind schnell vergessen. Auf Expeditionen ist Anpassungsfähigkeit und Kreativität ein ausschlaggebender Faktor für den Erfolg. Die Gegend rund um den Bolshaya Ganza ist wirklich außergewöhnlich beeindruckend und vielfältig.
Ein letzter Versuch auf den Bolshaya Ganza
Das Wetter zeigt sich wieder von seiner besten Seite. Allerdings haben sich die Verhältnisse am Berg aufgrund des starken Windes und dem Neuschnee der letzten Tage verändert. Die Bedingungen könnten in Gipfelnähe gefährlich und alles andere als optimal sind. Trotzdem sind wir uns einig, es zumindest noch mal zu versuchen.
Aufstieg
Das Wetter ist traumhaft. Der Zustieg verläuft reibungslos. Bei Morgendämmerung erreichen wir den Einstieg des steilen Eiscouloirs. Mit Steigeisen und Eisgeräten starten wir den 600 Meter langen Anstieg. Um Zeit zu sparen entscheiden wir das Eiscouloir seilfrei zu klettern. Die dünne Luft ist bereits deutlich zu spüren.
Am Grat angekommen suchen wir nach einem geeigneten Weiterweg. Das Gelände ist brüchig und schwer zu lesen. Wir seilen uns an und starten die abwechslungsreiche Kletterei durch die ersichtlichste Linie am Grat. Die Felsaufschwünge sind steil. Nach der ersten Seillänge wird der Fels besser und es erwarten uns einige wirklich schöne Passagen bis zum oberen 5ten Grad. Mit unserem Gepäck in dieser Höhe und Exponiertheit ist der Schwierigkeitsgrad nicht zu unterschätzen. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl als erster Mensch in dieser Wand hochzuklettern.
Schwere Entscheidungen
Am Nachmittag erreichen wir ein Schneefeld auf über 4700m. Nur noch ein relativ kurzes Stück fehlt uns zu unserem geplanten Biwakplatz. Von diesem wären es nur noch ca. 400 Höhenmeter im leichten Gelände bis zum Gipfel. Doch dieser Abschnitt wirkt nicht einladend. Jetzt wird uns auch bewusst wohin der Wind den Schnee verfrachtet hat. Ungebundener Triebschnee auf hartem Blankeis. Der Weiterweg führt entweder am Grat entlang, wobei uns im oberen Bereich eine rund 50m hohe blanke überhängende Stelle erwartet, die frei mit unserem Equipment nicht überwindbar wäre. Wir versuchen die Alternative über unübersichtliches Mixedgelände im M5/6 Bereich. Schon bald zeigt sich aber, dass das Blankeis mit dem eingeblasenen Schnee keine optimale Kombination darstellt. Zu langsam kommen wir voran, zu groß ist die Gefahr im großen Team. Dazu kommt die Gewissheit, dass der Westgrat, unsere einzige Abstiegsoption bei einem Gipfelerfolg, mittlerweile extrem lawinengefährdet sein wird. Der starke Schneefall, in Kombination mit Wind, hat eine objektiv sehr gefährliche Situation geschaffen.
Abstieg
Wir diskutieren noch alle Möglichkeiten, aber schlussendlich fällt uns die Entscheidung nicht schwer. Außerdem läuft uns die Zeit davon. Unter diesen Umständen wollen wir keine Nacht an dieser Stelle verbringen. Wir entschließen uns den anspruchsvollen Abstieg noch heute anzutreten. Im leichteren Gelände klettern wir seilfrei ab. Jeder ist erschöpft und müde. Doch jetzt gilt es die Konzentration zu wahren. Kletterstellen im brüchigem oberen 3ten Grad mit dem Gepäck abzuklettern erfordert höchste Aufmerksamkeit. Als nach kurzer Zeit der Fels wieder steil abfällt, errichten wir den ersten Abseilstand. Im brüchigen Gelände wird jeder Schlaghaken doppelt geprüft. Das Team arbeitet perfekt zusammen. Nach einigen weiteren Abseilern erreichen wir wieder den Ausstieg vom Couloir.
Bald geht die Sonne unter. Doch da das Couloir hier oben steil und blank ist, entschließt sich ein Teil des Teams auch hier noch abzuseilen. Völlig erschöpft erreichen wir den Einstieg und über mühsames Blockgelände geht es bei einbrechender Dunkelheit zurück zum Basislager.
Was für ein Tag. Wir alle sind superhappy. Eine derartige Tour in dieser Kulisse zu klettern, lässt jedes Alpinistenherz höher schlagen. Zwar konnten wir den Gipfel knapp nicht erreichen, wichtiger ist aber wie immer, dass wir alle heil im Basecamp angekommen sind. Erleichtert gönnen wir uns einen Schluck russischen Vodka und fallen in die Schlafsäcke.
Way Back
Das Wetter schlägt am kommenden Tag erneut unerwartet um und wieder setzt Schneefall und Regen ein. Auf die Vorhersagen ist kein Verlass. Einmal mehr ist uns bewusst, genau die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Am Berg säßen wir jetzt in der Falle und müssten einen gefährlichen Rückzug antreten.
Wir beschließen in den kommenden Tagen das Basislager zu verlassen, da ein weiterer Gipfelversuch nicht mehr in Frage kommt. Der Herbst ist eindeutig ins Land gekehrt. Andreas und Martin wählen den Schnellabstieg und starten mit den Paragleitern vom Basislager in Richtung Zivilisation. Ein schöner Abschluss einer Expedition mit Höhen und Tiefen. Elli und Phillip werfen einen letzten Blick zurück zum Bolshaya Ganza bevor sie wehmütig aber glücklich das Tal hinaus marschieren und die Heimreise antreten.